Wie kategorisieren Sie denn Krisen? Was unterscheidet beispielsweise die Klimakrise von den Umwälzungen durch das Coronavirus?
Es gibt „Creeping Crises“ wie den Klimawandel und ähnliche schleichende Veränderungen, die man als Strukturkrisen bezeichnet. Da werden zwar langfristige Warnsignale gesehen, aber es wird nicht entschieden genug gegengesteuert. Klar davon abzugrenzen sind wirkliche Schockereignisse, die als disruptive, externe Faktoren auf ein System treffen. In meinem Forschungsgebiet geht es schon seit einigen Jahren um die Vulnerabilitäten solcher Systeme – und trotzdem war es erstaunlich für mich zu sehen, welch tiefe Schwachstellen COVID-19 offengelegt hat.
Für die Transformationsprozesse in der Automobilindustrie oder im Luftfahrtsektor hat die Corona-Krise wie ein Katalysator gewirkt. Hier hat sich gezeigt, was nötig oder gar überfällig ist. Das Gebot der Stunde ist, nicht den Status vor der Krise wiederherzustellen, sondern eine Transformation voran zu treiben. Mich hat die Wucht überrascht, mit der Corona solche Probleme offenbart hat.
Werden schnell Schuldige gesucht, wenn eine Krise so tief greift?
Manche Systeme suchen nach Verantwortlichen. Es geht aber nicht darum, einen Schuldigen zu suchen, sondern darum, die richtigen Konsequenzen aus einer Krise zu ziehen. Im Zusammenhang mit COVID-19 ist es wichtig, zwischen Single-Loop- und Double-Loop-Learning zu unterscheiden. Single-Loop-Learning heißt, sich zu fragen, welche Produkte und Services im Zuge von COVID-19 ausgefallen sind oder knapp wurden, beispielsweise Schutzmasken oder Beatmungsgeräte. Damit das künftig nicht noch einmal passiert, werden Vorkehrungen getroffen.
So bereitet man sich auf den vergangenen Krieg vor, nicht aber auf den kommenden. Allerdings gestalten sich Krisen oft sehr unterschiedlich. Daher braucht es Double-Loop-Learning. Das liegt eine Abstraktionsebene höher und stellt die Frage: „Warum haben wir damals Fehlannahmen getroffen und warnende Experten ignoriert?“