5 Minuten Lesezeit 7 September 2021
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Wie stationärer Handel vom Problemfall zum Quartiersanker wird

Von Ev Bangemann

Managing Partner Markets & CCaSS Leader EY Germany | DE&I Sponsor EY Europe West, EY GmbH & Co. KG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft

5 Minuten Lesezeit 7 September 2021

Kunden lockt es seltener in die Städte, Läden bleiben leer. Doch es gibt Konzepte, die den Einzelhandel fit für die Zukunft machen können.

Überblick

  • Was Kunden in Zukunft von Händlern erwarten 
  • Welche Geschäftsmodelle langfristig funktionieren werden
  • Wie Händler, Immobilieneigentümer und Kommunen sich auf die neuen Herausforderungen einstellen

Die Digitalisierung verändert die Welt des Handels und des Konsums. Die Corona-Pandemie mit Lockdown und Schließung von Geschäften wirkt wie ein Katalysator, der die Entwicklung verstärkt und beschleunigt. Gleichzeitig ändern Kunden ihr Verhalten: Sie kaufen immer häufiger online ein.

Der Handel steht vor der Aufgabe, sein Geschäftsmodell den neuen Bedingungen anzupassen. Er muss die Wünsche der Kunden vorausschauend einschätzen können, um diese zu erfüllen und letztlich im Wettbewerb zu bestehen. Dazu brauchen sowohl der stationäre Handel als auch traditionelle Einkaufslagen innovative Konzepte. Ziel ist es, Menschen dauerhaft zu begeistern und für sich zu gewinnen. Zukunftsfähiger Handel durchbricht den Teufelskreis aus Frequenz- und Bedeutungsverlust, Ladensterben und verödenden Innenstädten. Er wandelt sich zum belebenden Quartiersanker. Stellt sich die Frage, wie der Handel diesen Wandel bewältigen kann. 

Kunden selektieren „ihre“ Marken und Händler streng

Geschäftsmodelle von morgen werden auf Relevanz fokussieren. Oder anders ausgedrückt: Relevanz wird in Zukunft die Währung für Kundenloyalität und Kundeninteresse sein. In den Unternehmen erfordert dies ein Umdenken bei der Ausrichtung auf den Kunden. Es wird nicht damit getan sein, (Werbe-)Botschaften einfach personalisiert zu streuen. Stattdessen kommt es darauf an, bei Leistung und Leistungsversprechen so bedeutend für den jeweiligen Kunden zu werden, dass dieser von sich aus mit einem Händler und/oder einer Marke interagiert.

Relevanz wird in Zukunft die Währung für Kundenloyalität und Kundeninteresse sein.
Dr. Ludwig Voll

Im Optimalfall gewinnt der Kunde den Eindruck, er bekomme für sein Interesse so viel Leistung zurück, dass er den Händler oder die Marke sogar selbst zur Kontaktaufnahme einlädt. Dies wird umso wichtiger werden, weil Konsumenten sich künftig wahrscheinlich mit einer Art Kokon umgeben. An diesem prallt – vergleichbar mit einem Spam-Filter – Unerwünschtes ab. Es wird dann nur noch wenige Händler, Marken und Hersteller geben, mit denen Kunden sich überhaupt beschäftigen wollen. 

Abwechslung wie auf einem Wochenmarkt inspiriert die Kunden

Zukunftsszenarien weisen auf eine Polarisierung des Konsumverhaltens hin. Es wird eine klare Trennung zwischen Einkäufen für den alltäglichen Bedarf geben und solchen, die Spaß machen. Diese Erlebniskäufe werden Konsumenten voraussichtlich ausschließlich auf die Dinge konzentrieren, an denen sie Freude haben – und der Rest wird ausgeblendet. Darauf sollte der Handel seine Interaktion ausrichten. 

Gerade der stationäre Filial-Einzelhandel ist hier gefordert. Er adressiert üblicherweise seine Angebote in Shoppingzentren und Haupteinkaufsstraßen an 80 Prozent der Passanten. Einerseits ist das eine Notwendigkeit, um die Standortkosten zu erwirtschaften. Andererseits führt diese Breite im Portfolio zu unprofilierten, austauschbaren Angeboten, wenn für jeden etwas dabei sein muss. Ist der Handel damit für seine wesentlichen Kunden relevant? Erreicht er diese Spitzenzielgruppe? Szenarien zeigen, dass diese Gruppe andere Angebote braucht. Sie will Neues entdecken und inspiriert werden.

Ein abwechslungsreiches Warenangebot neben Gastronomie und Dienstleistungen – die Mischung sorgt für eine Belebung der Einkaufsorte.

Aus Sicht des Handels kann es lohnen, für spezielle Konsumenten spezielle Angebote zu entwickeln. Ein Beispiel ist ein schnell wechselndes Warenangebot, das auf kleineren Flächen wie auf einem Markt präsentiert wird, über den der Kunde von Stand zu Stand bummelt, das Besondere ausprobiert und auswählt. Ein Mix aus Gastronomie und Dienstleistungen ergänzt das Angebot. Die Mischung sorgt zugleich für eine weitere Belebung des Einkaufszentrums und/oder der Fußgängerzone.

Vor Ort auswählen, nach Hause liefern lassen

Die Verkaufsfläche verliert in solchen Konzepten ihre Waren-tragende Funktion. Mikrostrukturen werden große Formate ablösen. Das Ladengeschäft hält nicht mehr eine Bluse in zahlreichen verschiedenen Größen, Farben und Mustern bereit, sondern nur ein oder zwei Exemplare. Sie dienen praktisch als Anreiz, sich mit dem Sortiment zu beschäftigen. Mehr Auswahl wird das Geschäft online anbieten: Der Kunde wählt und bestellt direkt im Laden. Idealerweise bekommt er die Bluse am gleichen Tag nach Hause geliefert. So verschwinden die Grenzen zwischen den Absatzkanälen offline und online. Damit wäre auch die aktuelle Diskussion, ob nun online oder offline die richtige Lösung ist, beendet.

Zum anderen bietet der Händler seinen relevanten Kunden ein Plus an Service – die Heimlieferung entlastet vom Tütenschleppen. So muss für den Shoppingbummel auch nicht unbedingt das eigene Auto als Transportmittel dienen. Das trägt zur neuen Mobilität bei, die den Individualverkehr in den Stadtzentren zugunsten von mehr Aufenthaltsqualität verringern will. Das wird nicht zuletzt dem stationären Handel zugutekommen. 

Das Beste aus zwei Welten: persönlicher Service und virtuelles Sortiment

In Barcelona zeigt ein internationaler Elektronikhändler bereits, wie Mikrostrukturen funktionieren. Er betreibt in einem Einkaufszentrum lediglich einen kleinen Laden, in dem es aber vom Minikopfhörer bis zur Waschmaschine alles zu kaufen gibt. Das Sortiment wird virtuell präsentiert. Die Mitarbeiter beraten und bedienen ihre Kunden direkt an Terminals. Das hat Vorteile: Die Präsentation der 40.000 Artikel beansprucht keinen Platz, was Flächenbedarf und damit Kosten reduziert, ohne dass Kunden Einbußen beim Service spüren. Im Gegenteil: Die persönliche Betreuung schafft Nähe. Diese fördert ebenso wie die Art der Präsentation das Einkaufserlebnis. Die Kauffreude wächst. Im Idealfall kehrt relevante Kundschaft zurück in den für sie relevanten Laden. Damit nimmt die Attraktivität der Einkaufslage wieder zu, die Frequenz steigt – die anfangs beschriebene Abwärtsspirale wäre gestoppt.

Für innovative Formate und wirtschaftlich tragfähige Modelle müssen Handel, Immobilienentwickler, Centermanager und Kommunen an einem Strang ziehen.
Ev Bangemann
Managing Partner Markets & CCaSS Leader EY Germany | DE&I Sponsor EY Europe West, EY GmbH & Co. KG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft

Um diese Überlegungen erfolgreich umzusetzen, sollten Handel, Immobilienentwickler, Centermanager und Kommunen an einem Strang ziehen. Händler werden innovative Formate und wirtschaftlich tragfähige Modelle brauchen. Entwickler und Betreiber werden Flächen anders strukturieren müssen. Diese sollten sowohl dem Handel die Realisierung seiner zukunftsfähigen Konzepte ermöglichen als auch so gestaltet sein, dass sie in Einkaufslagen mit geringer Reichweite noch Kunden anziehen. Vielleicht ändert sich auch die Rolle des Betreibers. Eventuell wandelt er sich stärker in Richtung Kurator, der Impulse zur Bespielung der Flächen setzt.

Die Kommunen sollten Anreize beisteuern, damit der Handel sich zum Quartiersanker entwickeln kann und die Menschen in die Einkaufslagen zurückkehren. Oder besser gar nicht erst wegbleiben. Dieses Zusammenspiel der Akteure setzt eine ehrliche Analyse voraus. Und den Mut, neue Wege einzuschlagen.

Fazit

In den vergangenen Monaten hat der Einzelhandel u. a. aufgrund der Corona-Pandemie stark an Bedeutung verloren. Die Frequenz in den Einkaufslagen sinkt und mit ihr verlieren Innenstädte an Attraktivität. Der Handel kann den Abwärtstrend bremsen. Dazu braucht er spezifische Angebote für relevante Kunden. Weniger kann dabei mehr sein: Kleineres Sortiment, kleinere Flächen, aber ein Plus an Service und Abwechslung können die Menschen zurückholen. Um den Wandel zu schaffen, müssen Immobilieneigentümer und Kommunen mitziehen. Denn auch sie profitieren, wenn der Handel wieder als Quartiersanker funktioniert.

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Von Ev Bangemann

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