6 Minuten Lesezeit 1 Juni 2023
Pico do Arieiro bei Sonnenuntergang

Wo Biotechnologie steht – und welches Standing sie haben sollte

Von Dr. Manuel K.A. Bauer

EY Biotech Leader Germany, EY Corporate Solutions GmbH & Co KG | Deutschland

Manuel kennt die strategischen Anforderungen des Life Science Sektors seit über 25 Jahren. Entsprechend unterstützt er alle EY Bereiche wie Unternehmen in der Unternehmensentwicklung und -beratung.

6 Minuten Lesezeit 1 Juni 2023

Das Zutrauen in die deutsche Biotechnologie hält in der Post-Pandemie-Ära an. Die erhoffte Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Investitionsstandort Deutschland ist allerdings ausgeblieben.

Überblick

  • Die nach der Pandemie zu erwartende Normalisierung des Biotech-Marktes fällt wegen der makroökonomischen Krise schwächer aus.
  • Dennoch ist die Branche in Deutschland nach wie vor gut aufgestellt.
  • Damit das so bleibt, braucht sie weiterhin eine nachhaltige Finanzierung. 

Wenn die Verlagerung von Forschung und klinische Entwicklungen zur Medikamentenentwicklung von Unternehmen ins Ausland es sogar bis in die Nachrichten schafft, ist das ein Signal: Dafür, dass diese Unternehmen hier nicht die geeigneten Rahmenbedingungen vorfinden, um diesen Bereich auch in Deutschland optimal wertschöpfend vorantreiben zu können.

Kein Anlass für einen Alarm, aber ein exemplarisches Beispiel, das zu einem allgemeinen Aufruf verleitet: Darum trägt der Deutsche Biotechnologie-Report 2023 von EY den Titel: „Appell – Zeit zum Handeln“.

Dieser Appell richtet sich an alle Beteiligten des Biotech-Innovationsökosystem: an die Gesellschaft, die Politik wie an Investoren sowie auch an die Unternehmen selbst. Es ist an der Zeit, den Stellenwert von Biotechnologie nicht nur zu erkennen, sondern zu priorisieren und sie daraus resultierend mit aller Kraft und allem Mut als eine der zukunftsweisenden Schlüsselbranchen zu unterstützen.

Makroökonomische Krise bremst Normalisierung des Marktes

Es war und ist keine Überraschung, dass nach Ende der COVID-19-Pandemie, während der eine breite Masse an Investoren immense Summen an Kapital in die Life Science Branche investierten, eine Normalisierung erfolgen würde. Die Bereinigung zeichnete sich bereits ab dem zweiten Halbjahr 2021 ab, wurde nun allerdings seit 2022 durch die hinzugekommene makroökonomische Krise verstärkt. Probleme in den Lieferketten, Inflation, Zinserhöhung, Energiekrise – all diese Punkte begründen seither Zurückhaltung und Zögerlichkeit bei den Investoren. Von den Folgen der Krise ist nicht allein die Biotechnologie betroffen, wie starke Einbrüche auch in anderen Industrien zeigen.

Es war klar, dass es nach den Ausnahmejahren 2020 und 2021 mit allein mehr als 200 Börsengängen an der Nasdaq so nicht weitergehen würde. Nun aber verstärkte die Weltwirtschaftskrise einen Abschwung, auch international, mit dem unter regulären Voraussetzungen nur im geringeren Maße zu rechnen gewesen wäre. Die Exit-Kanäle von IPOs (Initial Public Offering /Börsengänge) und M&As (Mergers and Acquisitions) sind derzeit relativ geschlossen, werden sich aber wieder erholen. Wie unserer Ansicht nach die Gesamtlage in der Biotechnologie aufgrund ihrer nach wie vor bestehenden Stärken.

Einbrüche ja, aber auch Zeichen des Aufbruchs

Zu dieser Annahme kommen wir aufgrund der Zahlen aus 2022, die Anlass zu Optimismus geben. Auf den ersten Blick sind sie gekennzeichnet vom Abschwung: Nach rund 3 Milliarden Euro im Jahr 2020 und knapp 2,5 Milliarden Euro 2021 ist die gesamte Eigenkapitalfinanzierung aus Risikokapital, Börsengängen, Folgefinanzierungen und Wandelanleihen 2022 zwar um 67 Prozent auf 812 Millionen Euro gesunken. Betrachtet man die Kapitalaufnahme abgesehen von IPOs und Wandelanleihen, die in Deutschland bisher eher Einzelereignisse darstellten, so liegt die Finanzierung jedoch weiterhin über dem Niveau vor der Pandemie, wogegen in den USA und Europa lediglich die niedrigste Finanzierungssumme seit 2016 zusammenkam. 

Deutlich festzustellen ist das gestiegene Interesse und Engagement asiatischer und amerikanischer Investoren an Finanzierungen innovativer Biotech-Unternehmen aus Deutschland.

Appell! Ausländisches Kapital ist in einer globalisierten Wirtschaft selbstverständlich und nötig. Außerdem zeugt es von der Qualität, die aus Deutschland geboten wird. Aber an dieser Stelle fehlen uns hierzulande große und mittlere Hedgefonds, Versicherungen sowie Pensionskassen und deren Fonds als Investoren, wenn wir ein Ungleichgewicht hinsichtlich der eigenen erstklassigen Forschung und Medikamentenentwicklung verhindern möchten. Doch diese Großinvestoren betrachten die Branche immer noch als zu risikoreich, um den Vorgaben und Regularien ihrer Investmentstandards zu genügen. Dabei ist diese Late-Stage-Finanzierung dringend notwendig, um die Entwicklung und Wertschöpfung der Unternehmen zu forcieren.

Der Appell richtet sich ebenso an die Regulatorik und ihre Bürokratie, die den Fortschritt erschwert und der es in zwei Jahrzehnten nicht gelungen ist, Hürden so weit abzubauen, das Unternehmen in Deutschland ihre Medikamentenentwicklung so schnell wie im Ausland vorantreiben können.

Pico do Arieiro bei Sonnenuntergang

Download: Deutscher Biotechnologie-Report 2023

Deutsche Biotechnologieunternehmen sehen sich mit einer geringeren Kapitalaufnahme konfrontiert, obwohl sie eine vielversprechende Produktpipeline vorweisen können. Während die Allianzen auf einem Rekordniveau sind, ist der M&A-Markt eingebrochen.

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Starker Anstieg an Allianzen – die vorsichtigere Lösung

Ganz im Gegensatz zu den Einbrüchen bei M&A und IPOs erreichten die Allianzen 2022 ein Rekordvolumen von mehr als 14,24 Milliarden Euro, womit deutsche Biotech-Unternehmen nicht nur an fast 40 Prozent des europäischen Allianzvolumens beteiligt waren, sondern den bisherigen Höchstwert von 2018 mit 7,41 Milliarden nahezu verdoppeln konnten. Gegenüber dem Vorjahr stieg das Volumen sogar um satte 320 Prozent.

Bombastische Zahlen mit Kehrseiten: Allein sechs Mega-Deals decken 88 Prozent des Gesamtvolumens der Allianzen ab, die breitere Masse an Unternehmen profitiert davon entsprechend nicht. Dazu macht die Zunahme deutlich, dass die Pharmabranche auf Allianzen statt auf M&A setzt und als Käufer aktuell verunsichert ist. Obwohl die finanziellen Mittel vorhanden wären, scheut sie aktuell das Risiko, das mit einem Erwerb eines Unternehmens verbunden ist – und verhindert in der Konsequenz den Ausbau der eigenen Produktpipeline, um den Growth Gap zu schließen. Langfristig können die Pharmaunternehmen es sich daher nicht leisten, innovative Ideen und Plattformtechnologien, mit deren Hilfe sich viele Wirkstoffe produzieren lassen, nicht für sich exklusiv zu beanspruchen – zumal beständig Patentausläufe hinzukommen. Mit Allianzen sichern sie sich zwar die Exklusivität für bestimmte Produkte in einzelnen Indikationen, aber nicht für die gesamte Technologie. Bleibt diese Entwicklung bestehen, könnten sich daraus mehr große Biopharmakonzerne bilden, auch als Konkurrenz zur bestehenden Pharmabranche.

Ob diese sich bald wieder an M&A traut – wovon wir ausgehen – oder nicht: Der Anstieg an Allianzen ist ein klares Zeichen für die Attraktivität und Reife deutscher Biotech-Unternehmen.

Biotechnologische Verfahren werden signifikant dazu beitragen, den Transformationsprozess hin zu einer nachhaltigeren Wirtschaft zu beschleunigen und umzusetzen.

Produktpipeline voller Potenzial

Diese Attraktivität fußt unter anderem auf der interessanten und gut gefüllten Produktpipeline der Biotechnologieindustrie. Die innovative Kraft der Unternehmen in Plattformtechnologien verschafft ihnen auch global eine führende Rolle, hervorstechend dabei die RNA-Technologie und andere sogenannte „New Modalities“, welche das größte Wachstum im Gesundheitswesen versprechen. Aktuell gibt es allein 17 Phase-III-Studien, also Produkte, die vor der Zulassung stehen und in der Hand deutscher Biotech-Unternehmen liegen. Um allein dieses Wertschöpfungspotenzial zu heben und die Produkte mit der eigenen nötigen Finanzkraft in den Markt zu hieven, ist ein zeitnaher Investitionsschub in diesem und im nächsten Jahr von so großer Bedeutung.

Ausbau zum Aushängeschild statt abhängen lassen

COVID-19 hat einen Teil der Biotechnologie als gesundheitlichen Weltretter in die Mitte der Gesellschaft geschoben. Was hier noch nicht angekommen ist: ihre Bedeutung als Antwort auf viele weitere Herausforderungen der Zukunft. Biotechnologische Verfahren werden signifikant dazu beitragen, den Transformationsprozess hin zu einer nachhaltigeren Wirtschaft zu beschleunigen und umzusetzen: Die Bioökonomie wird die Lösungen bieten, die wir brauchen. Von Energie bis Ernährung, von Recycling bis zu Raffinerie-Ersatzprodukten.

Überhaupt bietet Biotechnologie zum Megatrend Nachhaltigkeit viele Ansätze, die für sie selbst und andere von Nutzen sein können. Investoren legen in ihrem Portfolio inzwischen gesteigerten Wert auf ESG-Aspekte, die für Environmental, Social und Governance stehen und somit auch gesellschaftliche Auswirkungen einbeziehen. Daher sollten Biotech-Unternehmen sich nachhaltig positionieren, Risiken sowie Chancen kennen und transparent nach außen kommunizieren. Relevante Punkte sind beispielsweise Abfall- und Gefahrstoffmanagement oder auch ethische Aspekte bei Tierversuchen und Studien an Menschen. Biotechnologie kann außerdem ESG-Themen mit gesellschaftlicher Relevanz adressieren, wenn es zum Beispiel um Therapeutika und Diagnostika zu bis dato unheilbaren Krankheiten geht.

Wir haben alle Voraussetzungen, um Biotechnologie zu einem großen Aushängeschild für Deutschland zu machen. Auch das hat COVID-19 gezeigt. Und wenn wir vereinzelt straucheln, stolpern oder sogar stürzen: Ohne Mut zum Risiko (mental wie finanziell) gibt es keinen Erfolg. Das Rad muss sich jetzt drehen. Appell!

Fazit

Mit der Impfstoffentwicklung für COVID-19 trat die Biotechnologie aus ihrem Schattendasein heraus – doch der erlösende Moment bleibt aus. Das Investitionsvolumen fällt zwar nicht auf die Zeit vor der Pandemie zurück, aber es bedarf beständiger und mehr Finanzierung, um sie erfolgreich zu dem auszubauen, was sie ist: eine der Schlüsselbranchen der Zukunft.

Über diesen Artikel

Von Dr. Manuel K.A. Bauer

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