Wo liegen die größten Potenziale der Chemieindustrie, um klimaneutral zu werden?
Es gibt vier große Bereiche: die Rohstoffversorgung, der CO2-Fußabdruck in der eigenen Produktion, die Unterstützung der Kundenbranchen bei ihren jeweiligen Transformationen und auch die Kreislaufwirtschaft. Alle Bereiche sind zudem eng miteinander verbunden.
Ein großer Teil der Emissionen entsteht bei der Rohstoffgewinnung. Ausgangsstoffe der Chemie sind Naphtha, Kohle, Gas oder recycelte Rohmaterialien. Alle vier haben ein Klima- und Verfügbarkeitsproblem. Bei einigen Rohstoffen wird die Nachfrage sinken, bei anderen steigen. Ein Beispiel: Naphtha, also Rohbenzin, ist ein Abfallprodukt aus der Raffinerie. Wenn die Verkehrswende kommt und alle elektrisch fahren, brauchen wir keine Raffinerien mehr. Bei Bioethanol aus Biomasse gibt es die Tank-oder-Teller-Diskussion. Zudem benötigt der Anbau große Agrarflächen. Die Lösung schein Zirkularität zu sein, also die Abfälle in einer Kreislaufwirtschaft zu recyceln. Die Schwierigkeit hierbei ist, die verblendeten Rohstoffe in den Endprodukten wieder voneinander zu trennen. Hierfür gibt es zwar technische Lösungen, doch alle verbrauchen Energie.
Wie lässt sich die eigene Produktion klimafreundlicher umgestalten?
Hier liegt der Schlüssel zur Klimaneutralität in der Elektrifizierung. So wird beispielsweise Naphtha im Cracker in Kohlenstoffketten aufgespalten, etwa in Ethylen, Propylen oder Butadien. Sie dienen als Ausgangsstoffe für eine Vielzahl von Industrieprodukten. In der Basischemie steckt der Großteil an CO2 und damit der größte Hebel in Sachen Dekarbonisierung. Der Effekt wird entlang der Wertschöpfungskette immer kleiner. Wie bei der Stahlproduktion, der Zement- oder Glasherstellung muss also die Produktion der Ausgangsstoffe elektrifiziert werden. Im Ergebnis wird der Bedarf an elektrischer Energie in der Chemie massiv steigen.
Kann die Chemieindustrie auch einen aktiven Beitrag zum Klimaschutz leisten?
Aufseiten der Kundenindustrie fallen im Zuge der Dekarbonisierung einige Dinge weg, andere kommen neu hinzu. Elektroautos brauchen beispielsweise keine Katalysatoren, dafür Batterien. In der Energiewende steckt jede Menge Chemie: Solarpanels, die Verbundkunststoffe für Windräder, Häuserdämmung, Wasserstoff und Batterien. Ohne Chemie wäre Klimaschutz nicht möglich. Unterm Strich sparen einige Chemieprodukte mehr an Treibhausgasen ein, als ihre Produktion verursacht. Chemie ist also auch Teil der Lösung. Daraus ergeben sich große Chancen für die Industrie.
Für die Transformation der Chemieindustrie braucht es also enorme Investitionen sowie viel und günstigen Strom, damit die Industrie weiter international wettbewerbsfähig bleibt. Die Chemie ist der drittgrößte Industriezweig in Deutschland und einer der wenigen, in denen Deutschland weltweit führend ist. Das ist auch für viele Kundenindustrien in Deutschland ein Wettbewerbsvorteil. Es ist also auch ein Standortthema.
Der Standort Deutschland ist nicht gerade für günstigen Strom bekannt.
Das ist in der Tat ein Problem. Der Knackpunkt ist die Verfügbarkeit von CO2-neutraler Energie. Einerseits wird Ökostrom immer günstiger, andererseits müssen wir aufpassen, dass er sich nicht durch diverse Umlagen wieder verteuert. Die EEG-Umlage ist dabei nur ein Aspekt. Strom wird damit immer mehr zu einem Wettbewerbsfaktor, den man nicht vernachlässigen darf.
Stromverbrauch
628 TWhwürden deutsche Chemieunternehmen ab Mitte der 2030er-Jahre jährlich benötigen, um klimaneutral zu produzieren. Das entspricht mehr als der gesamten deutschen Stromproduktion von 2018.
Was bedeuten die verschärften Klimaschutzziele der Bundesregierung für die Chemieindustrie? Und was erwartet die Branche von der Politik?
Die Chemie braucht stabile Rahmenbedingungen. Investitionssicherheit, Energiepreise, CO2-Preise, verfügbare und bezahlbare Rohstoffe – all das muss vorhersehbar sein und bleiben, damit die chemische Industrie diese Transformation rentabel durchführen kann. Davon sind wir derzeit noch weit entfernt. Die verschärften Klimaziele der Bundesregierung sind sicher richtig und begrüßenswert, aber sie bedeuten natürlich für die Branche auch weitere Anstrengungen. Man darf nicht vergessen, dass die Chemieindustrie lange Zyklen hat. Wenn ein Unternehmen heute eine neue Anlage baut, dann steht sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im Jahr 2045 noch. Deshalb braucht es heute einen verlässlichen Rahmen, um Entscheidungen zu treffen. Das erhöht den Druck enorm.
Laufen wir Gefahr, dass die Chemieindustrie in weniger streng regulierte Länder abwandert?
Die Gefahr besteht, und das passiert ja auch schon. China deckt bereits über die Hälfte des weltweiten Chemiemarktes ab. Daneben sind der Mittlere Osten mit seinen reichen Ölvorkommen und die USA am Golf von Mexiko stark vertreten und bauen ihre Industrie weiter aus. Erstrebenswert wären für die Chemie weltweit einheitliche Rahmenbedingungen. Gelingt dies nicht, blieben zum Beispiel Ausgleichsmechanismen für Chemikalien oder Chemieprodukte beim Import. Die Branche braucht hier schnell eine Lösung, um darauf reagieren zu können.
Fazit
Um das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen, muss die Chemieindustrie ihre Prozesse dekarbonisieren. Für diesen Transformationsprozess benötigt sie stabile Rahmenbedingungen und viel günstigen Strom. Die Wettbewerbsfähigkeit des Chemiestandortes Deutschland könnte auf dem Spiel stehen.