7 Minuten Lesezeit 28 Okt. 2021
green building

Was passiert, wenn Gebäude sich selbst gehören und managen können?

Von EY Schweiz

Wegbereiter des Wandels

Co-Autoren
7 Minuten Lesezeit 28 Okt. 2021

Das klingt nach Science Fiction, dürfte aber bald Realität sein. Die Baubranche muss sich schon jetzt darauf einstellen.

In Kürze
  • Durch den Einsatz von Blockchain und Smart Contracts sowie dezentralisierter autonomer Organisationen (DAOs) können Gebäude sich selbst gehören und managen.
  • Für Pionierunternehmen bieten Blockchain und DAOs enorme Chancen neue Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle zu entwickeln.
  • Bauunternehmen, die sich jetzt abwartend verhalten, werden zusehen müssen, wie unerschlossene Marktsegmente bereitwillig von Startups und neuen Markteilnehmern besetzt werden.

Stellen Sie sich vor, Sie leben oder arbeiten in einem Gebäude, das niemandem gehört – weder Ihnen noch einer Immobiliengesellschaft oder einem Finanzinstitut – und das sich selbst eigenständig steuert. Dieser Gedanke erscheint Ihnen vielleicht wie die Handlung eines futuristischen Science-Fiction-Films. Doch die Technologie entwickelt sich schneller als unsere Vorstellungskraft. Die globalen Immobilienmärkte erleben einen Boom und bezahlbarer Wohnraum wird immer knapper. Die Vorstellung ganz neuer Besitzstrukturen und Funktionsweisen eines digitalisierten Markts für Wohnimmobilien mag vielen Menschen daher äusserst verlockend erscheinen. Dies gilt vor allem für Millennials und Angehörige der Generation Z: Erlebnisse und die Verfügbarkeit von Dienstleistungen sind ihnen wichtiger als Besitz und sie nehmen neue Technologien eher an.

Auch wenn es sich unrealistisch anhört: Immobilien, die Computercodes gehören und sich selbst steuern, könnten schneller als erwartet Wirklichkeit werden. Wir haben mit Martin Ceccon gesprochen, dem Leiter von EY-Parthenon Strategy in der Schweiz. Er erklärte uns das Konzept des autonomen Gebäudes, das nur der erste Schritt sein könnte auf dem Weg zu Immobilien, die sich selbst oder Maschinencodes gehören, und umriss die Folgen für die Baubranche. 

Woher stammt die Idee des autonomen Gebäudes, das sich selbst gehört?

Das Konzept wurde an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich in Zusammenarbeit mit wichtigen Branchenpartnern erarbeitet, darunter EY-Parthenon. Das Projekt mit dem Namen «no1s1» (no one’s one) geht zurück auf die in Zürich ansässige Denkfabrik Dezentrum. No1s1 soll einen der grössten Märkte revolutionieren und die Immobilienbranche in die digitale Zukunft katapultieren, indem Barrieren und Vermittler beseitigt und Besitzstrukturen demokratisiert werden, sodass sich jeder beteiligen kann. Im Mittelpunkt des Projekts steht eine grundsätzliche Umgestaltung und Erneuerung der Besitzstrukturen und Dienstleistungen im Zusammenhang mit Immobilien. EY-Parthenon freut sich über die Gelegenheit, hieran mitzuwirken. 

Warum interessierte sich EY-Parthenon für dieses Projekt und die Zusammenarbeit mit der ETH Zürich?

Während der grossen Finanzkrise 2008 führten komplexe, mit Immobilien verknüpfte Finanzinstrumente zu einer globalen wirtschaftlichen Katastrophe. Seitdem wurde zunehmend gefordert, dass mehr Menschen besseren Zugang zu Immobilienbesitz erhalten müssen. Zugleich sind neue Instrumente aus dem Boden geschossen, die Immobilienanlagen beleben sollen. Im Wohnungswesen führte dies teilweise zu einem allgemeinen Boom und für viele ist bezahlbarer Wohnraum inzwischen nur noch schwer zu finden.

Wir haben die Idee der digitalen und nachhaltigen Immobilien untersucht. Dabei haben wir uns angesehen, wie Technologie – vor allem Blockchain – und das neue Modell der dezentralisierten autonomen Organisation (DAO) es möglich machen, dass Gebäude sich selbst gehören und sich selbst steuern. 

Erfahren Sie mehr über das no1s1 Projekt in diesem Video hier

«Wenn die Zukunft der bebauten Umgebung digital ist, kann man mithilfe von Blockchain neue Organisationsstrukturen zur Steuerung und Regulierung dieser digitalen Zukunft gestalten.» – Daniel Hall, Professor für innovatives und industrialisiertes Bauen, Departement Bau, Umwelt und Geomatik, ETH Zürich

Was ist eine DAO und wie funktioniert sie?

Gute Frage. Eine DAO ist eine Organisationsstruktur, für die bestimmte Regeln gelten. Diese sind in Smart Contracts auf einer Blockchain codiert. Diese Smart Contracts sind vollkommen transparent und die Anteilinhaber der DAO haben die Kontrolle darüber. Die Smart Contracts bestimmen die Geschäftslogik. Die zugrundeliegende Blockchain ist ein abgesichertes, digitales Register, die Regeln durchsetzt und alle Interaktionen unabänderlich verfolgt.

DASs sind auf Computercodes basierende Organisationen, die so programmiert sind, dass sie materielle Vermögenswerte bauen, steuern und instand halten. Es handelt sich also um eine Sonderform der DAOs. Mithilfe von Smart Contracts und der Blockchain-Technologie kümmern sie sich um alle Aspekte von der Bauplanung über das Gebäudemanagement bis hin zu Finanztransaktionen.  Am Anfang sind immer noch Menschen beteiligt. Sie entwickeln und programmieren die Prozesse der Smart Contracts. Aber wenn diese fertig sind, steigt der Mensch aus und überlässt es der Technik, die Arbeit zu erledigen und Entscheidungen zu treffen.

«Durch Blockchain und das Internet der Dinge werden Objekte zu Teilnehmern der Wirtschaft. No1s1 untersucht dies anhand eines konkreten Prototypen, mit dem viele etwas anfangen können: ein Haus, das sich selbst gehört.» Jens Hunhevicz, Doktorand, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für innovatives und industrialisiertes Bauen, Departement Bau, Umwelt und Geomatik, ETH Zürich

Was würde das für Unternehmen der Baubranche bedeuten oder für Unternehmen, die dieser Branche nahestehen?

Meiner Meinung nach ist dies ein hervorragendes Beispiel dafür, was in der Bau- und Immobilienbranche mithilfe von Technologie möglich ist. Es bieten sich enorme Chancen für neue Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle, die auf Blockchain basierende DAOs nutzen. Die Beteiligten des Ökosystems wie Architekt:innen, Ingenieur:innen, Auftragnehmer:innen, Bauzuliefer:innen und Gebäudetechniker:innen würden mit einem Computerprogramm interagieren und von diesem eingestellt. Die Interaktion würde auf den klaren Regeln der auf Computercodes basierenden Smart Contracts beruhen. Diese berücksichtigen genau die Geschäftserfordernisse, die Lieferanten erfüllen müssen, darunter die Bedingungen bezüglich Zeit, Qualität, Kosten und Nachhaltigkeit. Derartige Mensch-Computer-Interaktionen stecken noch in den Kinderschuhen. Eine genauere Untersuchung der Konsequenzen für Regulierungsbehörden und Branchenteilnehmer steht daher noch aus.

EY-Parthenon erörterte jüngst in einem Artikel die enormen Veränderungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette der Baubranche, grösstenteils infolge schneller technologischer Entwicklungen. Die Akteure der Baubranche stehen bereits unter zunehmendem Druck, ihre linearen Geschäftsmodelle auf stärker datengesteuerte, zirkuläre Geschäftsmodelle und eine umfassende Digitalisierung umzustellen. Wenn Unternehmen schon jetzt versuchen, in einem digitalisierten, sich schnell wandelnden Umfeld einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen, können sie sich in diesem neuen Markt hervortun, indem sie die Anforderungen für DAOs erfüllen. Wenn Unternehmen die analoge Welt bevorzugen, müssen sie sich darauf einstellen, dass neue Unternehmen auftauchen und die Chancen nutzen, die DAO-Modelle bieten.

Sie sprachen von den Chancen für Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette der Baubranche. Gibt es auch Risiken?

In einer Baubranche mit Gebäuden, die sich selbst gehören und selbst steuern, müssen zwei Teilsektoren, die Immobilienverwaltung und das Gebäudemanagement, ihre Geschäftsmodelle grundlegend überdenken. Sie nehmen hauptsächlich eine Vermittlerrolle ein und diese fällt weg. Wenn Unternehmen dieser Teilsektoren die neue Technologie einbeziehen und ihr Produkt- und Dienstleistungsportfolio an die autonome Welt anpassen, bieten sich ihnen jedoch neue Chancen. 

Die Technologie birgt weitere Risiken. Sofern es geeignete Systeme zur Regulierung und Kontrolle gibt, können Smart Contracts sicher und zuverlässig codiert werden. Smart Contracts werden normalerweise geprüft, bevor sie eingesetzt werden. Verschiedene Unternehmensdienstleister, darunter EY-Parthenon, haben sich in diesem Bereich spezialisiert. EY-Parthenon bietet das Tool «EY Smart Contract & Token Review». Damit kann man den zugrundeliegenden Code von Smart Contracts überprüfen, um das Vertrauen in Transaktionen zu stärken, die Blockchain nutzen.

Vor diesem Hintergrund müssen DAOs zur Rechenschaft gezogen werden können. Ausserdem sind Technikfolgenabschätzungen erforderlich, bei denen unter ethischen Gesichtspunkten geprüft wird, ob DAOs die richtigen Entscheidungen treffen. Algorithmen können zwar eigenständig Entscheidungen treffen. Unter Umständen benötigt man aber Ansätze, bei denen Menschen oder die Gesellschaft einbezogen werden, um kritische Aspekte von DAOs unter menschlichem Blickwinkel zu betrachten. 

Wie können DAOs Umweltaspekte berücksichtigen?

Gute Frage. Im Allgemeinen ist Umweltverträglichkeit ein wichtiger Aspekt im Bauwesen. Deshalb müssen DAO-Modelle nachhaltig sein, sodass entlang der Wertschöpfungskette der Baubranche beachtliche Chancen entstehen. Hierzu zählt es, Bedingungen aufzustellen, etwa dass ein Gebäude von Beginn an einen Nettoenergieverbrauch von Null haben und nachhaltig konstruiert sein sowie im Ergebnis eine vollständig transparente, nachhaltige Ökobilanz haben muss. Andererseits muss man sich mit dem bedeutenden Energiebedarf bestimmter Blockchain-Anwendungen beschäftigen. Erfreulicherweise wird bereits viel darüber geforscht, wie man dieses Problem in den Griff bekommt.

Es wird zwar noch einige Jahre dauern, bis es DAOs und autonome Gebäude gibt. Aber was müssen Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette der Baubranche jetzt beachten?

Bisher akzeptieren die Akteure der Baubranche den digitalen Wandel eher zögerlich. Von daher werden die Unternehmen der Branche bei autonomen Gebäuden wohl stärker eine abwartende Haltung einnehmen. Aber wenn die Unternehmen nicht frühzeitig beginnen, neue Technologien einzubeziehen, werden Startups und neue Marktteilnehmer bereitwillig einsteigen und unerschlossene Vorteile nutzen.

Meiner Ansicht nach müssen sich Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette jetzt fünf Fragen stellen, um sich auf sich selbst managende Gebäude vorzubereiten:

  1. Wie kann man bei Investitionen Prioritäten setzen, um das Geschäft zu optimieren und sich vorzubereiten auf das, was kommt? Bauunternehmen arbeiten eher mit sehr geringen Margen. Daher fällt es vielleicht schwer, jetzt über Investitionen in eine unsichere Zukunft nachzudenken. Investitionen in Technologien, die für einen Umbruch sorgen, bieten jedoch mehrere Chancen. Sie erhöhen den Umsatz durch differenzierte Dienstleistungen und steigern den Gewinn durch bessere betriebliche Effizienz. Hierdurch erhöhen sich die Margen, die man angesichts der neuen Gegebenheiten investieren kann.
  2. Wie kann man sich in einer Zukunft mit DAOs positionieren? Architekt:innen, Ingenieur:innen, Auftragnehmer:innen, Lieferant:innen und Gebäudebetreiber:innen müssen sich überlegen, wie ihre Produkte und Dienstleistungen mit einer DAO interagieren und inwieweit sie ihre Geschäftsmodelle ändern müssen, damit sie Wachstums- und Effizienzchancen nutzen können.
  3. Wen benötige ich in meinem Ökosystem? Bauunternehmen müssen jetzt überprüfen, ob sie mit den richtigen Partnern zusammenarbeiten und die richtigen Bündnisse geschlossen haben. Wir gehen davon aus, dass in Zukunft nicht einzelne Unternehmen sondern Ökosysteme miteinander konkurrieren werden. Je nach Aufbau des Ökosystems kann ein Unternehmen auch sein Portfolio überprüfen und sich überlegen, ob es lieber herstellen, kaufen oder sich Partner suchen soll.
  4. Habe ich die richtige Technologieplattform, auf der man aufbauen kann? Die meisten Unternehmen der Baubranche haben den digitalen Wandel in irgendeiner Form in Angriff genommen. Einige müssen sich schneller um digitalen Wandel bemühen, damit sie bereit sind für die neuen technischen Strukturen, etwa DAOs. Dies hängt davon ab, wie ausgereift und fortgeschritten ihre Massnahmen sind.
  5. Verfüge ich über die richtigen Fähigkeiten und Ressourcen? Unternehmen müssen auch ihre aktuellen Personalressourcen überprüfen. Sie müssen ermitteln, ob sie die richtigen Mitarbeitenden mit den richtigen Fähigkeiten haben für die Erfordernisse neuer Technologien wie Blockchain und Smart Contracts zur Unterstützung von Organisationsstrukturen wie DAOs.

«Unsere physischen, digitalen und biologischen Welten kommen sich immer näher. Wann, wenn nicht jetzt, sollte man über den Besitz und die Regulierung der bebauten Umgebung sprechen? Das ist meiner Meinung nach der Nutzen des Projekts no1s1» - Hongyang Wang, Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin, Innovatives und Industrialisiertes Bauen, Departement Bau, Umwelt und Geomatik, ETH Zürich

Fazit

Die Vorstellung von Gebäuden, die sich selbst gehören und managen, erscheint wie eine radikale Idee, die sich niemals verwirklichen lässt. Das dachte man früher auch bei selbstfahrenden Autos. Inzwischen erleben wir, dass wir an der Schwelle zu einer vollständigen Umgestaltung der Mobilität stehen. Bei Gebäuden wird meiner Ansicht nach das Gleiche passieren. Die gute Nachricht: Die Baubranche kann sich die Erkenntnisse und Erfahrungen der Automobilindustrie zunutze machen. Zunächst müssen die Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette im Bausektor aber ihren digitalen Wandel beschleunigen. Ansonsten ist die Zukunft eines Tages da – und zum Handeln ist es zu spät.

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